Tagebuch
„Das Mädchen mit dem Klumpfuß“
PCA 102, 1889
übersetzt von Alexander Witzko
© MH 2025
Am Ende des Sommers zünde ich immer mit bebendem Herzen zum ersten Mal meine Lampe an, um wieder einen Abend drinnen zu verbringen, und um es mir mit einem Buch oder einem Stift in meiner gewohnten Winterecke gemütlich zu machen. Draußen regnet es in Strömen; kalte und klamme Luftzüge wehen durch die offene Gartentür und legen einen bläulichen, gespenstischen Tau über den Spiegel und die Politur der Möbel.
Aber die richtige Winterstimmung will sich trotzdem nicht einstellen. Zusammen mit dem kalten Hauch aus dem Garten strömt auch der Duft später Rosen und Levkojen hinein, und um die Lampe schwirren Mücken und große Nachtfalter, die mit ihren Flügeln gegen den gläsernen Lampenschirm klimpern.
Ich versuche zu lesen, aber meine Augen sind noch nicht an das schwache Petroleumlicht gewöhnt, das sich wie ein Nebel auf sie legt; die Wärme der Lampe brennt auf meiner Stirn, und ich versinke in einen Schlummer, ein Traumdämmern, in dem alle Erinnerungen des Sommers vor mir nacheinander vorbeiziehen, vom ersten Zwitschern der Stare bis zum letzten melancholischen „Vorbei, vorbei!“ des Kiebitzes.
Aber besonders eine Erinnerung, ein Bild, verfolgt mich. Warum? Ich weiß es selbst nicht. Aber vielleicht ist es diese erste wehmütige Vermischung aus dem letzten Rosenduft des Sommers mit dem ersten Nebel des Winters, die mir genau diese Erinnerung verstärkt ins Gedächtnis ruft.
Es geschah an einem stillen, sonnenklaren Morgen ungefähr zur Mitte des Sommers. Ich ging gerade vom Strand zur Aussichtsbank am Rande des Waldes, wo ich für gewöhnlich zu dieser frühen Stunde ungestört den Sund und dessen viele Segler beobachten konnte. Deshalb war ich verstimmt, als ich aus der Entfernung sah, dass die Bank bereits besetzt war; mein Verdruss verringerte sich jedoch erheblich, als ich im Näherkommen erkannte, dass es ein junges, scheinbar sehr hübsches Mädchen war.
Man ist ja doch auch nur ein Mensch. Ich setzte mich also ruhig ans andere Ende der ausreichend breiten Bank und da die Schönheit der Natur nun mal gesprächig macht, dauerte es nicht lange, bevor ich mich dazu erdreistete, mit der jungen Dame zu konversieren. Das nahm sie mir gar nicht übel und antwortete ohne Verlegenheit, wobei sich die Möglichkeit erbot, sie ungezwungener zu betrachten. Wie hübsch sie doch war! Ihr Gesicht war jung und fein, ein bisschen blass, aber doch frisch, fast schon keck. Das blonde Haar lag glatt und blank auf der Stirn, bis ungefähr zur Mitte der Schläfe, wo es gelockt bis über beide Ohren hing, und dort verschwand es unter dem weißen Sommerhut. Ihr roter Mund, ihre kleinen, weißen Zähne, die feinen, kindlich geschwungene Augenbrauen, alles strahlte Frische und Anmut aus. Die dunkelblauen Augen leuchteten mit einer Herzensgüte, die mich verzauberte.
Sie konnte mir sicherlich auch meine Bewunderung ansehen, und es war klar, dass es sie erfreute.
Schnell zeigte sich, dass wir viele gemeinsame Bekannte hatten, über die wir alsbald vertraulich plauderten. Schließlich stellten wir uns einander vor. Sie wohnte in einer Villa ganz in der Nähe und das bereits seit ein paar Monaten. Aber als ich ihr darauf meine Verwunderung mitteilte, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, nicht mal auf dem Ball im Konzertsaal, wo ansonsten alle Sommergäste versammelt waren, antwortete sie, dass sie sich meist zuhause aufhalte und Tanzen ihr nicht gefalle.
Ich erklärte ihr mit geflügelten Worten das Falsche daran und bot ihr an, sie zu einem nahgelegenen Aussichtspunkt zu führen, den sie noch gar nicht kannte. Dies lehnte sie jedoch mit einer Bestimmtheit ab, die mich etwas verwunderte, weil sie in großem Widerspruch zu ihrer sonst kindlichen Natürlichkeit stand.
Das Gespräch wandte sich dann anderen Themen zu, wo ihre plötzliche Reserviertheit genau so schnell wieder verschwand. Sie sprach und lächelte und zeigte sich ganz geschmeichelt von meiner unschuldigen Courmacherei. Ich begann wirklich etwas stolz zu werden; hatte ich doch ansonsten genug Erfahrungen, wie wenig ich mich auf meine Unwiderstehlichkeit verlassen konnte.
Auf einmal zuckte sie zusammen, als sie hörte, wie man sie von der Villa aus rief.
Zuerst wurde sie rot, dann eher bleich, als ich sie auf das Rufen aufmerksam machte, weil es sich wiederholte.
Trotzdem rührte sie sich nicht; aber sie biss sich auf die Lippe und starrte weiter auf ihre Hand, die fieberhaft die Armlehne der Bank umklammerte.
Ich sah sie überrascht an. Und als sie nicht auf meine Frage antwortete, stand ich schließlich auf und sagte:
„Ich hoffe, mein Fräulein, dass ich nicht an Ihrer Verstimmtheit Schuld trage. Und wollen Sie mich vom Gegenteil überzeugen, so erlauben Sie mir, dass ich Sie die Treppe hinunterbegleite. Das Moos ist noch feucht vom Tau, man kann so leicht ausrutschen, oder wollen Sie sich vielleicht meinen Stock ausleihen?“
„Nein!“, brach es aus ihr heraus, auf die gleiche abweisende Art wie zuvor und ohne aufzublicken.
„Nun sind Sie es, die mir gegenüber ungerecht sind, mein Fräulein! Es schmerzt mich, falls ich Ihnen durch meine Aufdringlichkeit Unbehagen bereitet habe. In diesem Fall hoffe ich, dass Sie mir vergeben.“
Aber jetzt wandte sie sich plötzlich ab, vergrub ihr Gesicht in den Händen und brach in heftiges Schluchzen aus.
Das war mir vollständig rätselhaft. Ich verstand nur, dass ich mich entfernen sollte, und nachdem ich höflich und schweigend meinen Hut zum Gruß gezogen hatte, ging ich still fort.
Aber als ich mich kurz darauf im Wald umdrehte und das junge Mädchen den Hügel hinuntergehen sah, löste sich das Rätsel auf: Das feine, schöne Geschöpf hinkte auf einem großen Klumpfuß.
Sie hielt sich noch das Taschentuch vor die Augen und schien heftig zu weinen.
Urbanus.
Dieser Tagebuch-Artikel über “Das Mädchen mit dem Klumpfuß” erschien in der dänischen Tageszeitung Kjøbenhavns Børs-Tidende am 23.08.1889. Er wurde zu der Erzählung „Eine Begegnung“ umgearbeitet und in Wisbechs Illustrerede Almanak für das Jahr 1893 gedruckt (PCA 207). Der Stoff wurde auch im Kurzroman Den gamle Adam (dt. Der alte Adam) verwendet.