Tagebuch
„Der Durst nach Freude“
PCA 139, 1889
übersetzt von Cecilia Czauderna
© MH 2013
14. November
Es wurde darüber geklagt – und wird es noch immer – dass die neue Literatur so pessimistisch sei. Zuletzt war es der schwedische Autor Verner von Heidenstam, der in einer kleinen Broschüre namens „Renaissance“1 den Ruf wiederholte, dass „die Zeit nach Freude dürstet“.
Aber ob die Zeit nach Freude dürstet oder nicht – was kümmert es eigentlich die Autoren? Verspürt ein Dichter den Drang, sich mit dem Kummer und den Enttäuschungen des Menschenlebens zu befassen, mit der Ungerechtigkeit der Gesellschaft und dem Elend der Armut – so tut er das, ohne Per Tot oder Povl Fjot um Erlaubnis zu bitten.
Natürlich – wünscht er sich Modeautor zu werden, sollte er zuerst diesen beiden werten Herren seine Aufwartung machen und sich erkundigen, wonach es sie im Augenblick „dürstet“. Aber die guten Autoren fragen den Zeitgeist nicht danach, was er wünscht. Sie folgen allein der Stimme ihres eigenen Herzens – und die harmoniert in der Regel gerade nicht mit der des Zeitgeistes.
Diese Klagen über die „schwarze“ Kunst der Gegenwart scheinen mir auch aus einem anderen Grund unberechtigt. Ich kann nämlich nicht erkennen, dass unsere heimische moderne Literatur so übertrieben pessimistisch ist oder war. Man sagt, ihre Bücher endeten alle „so traurig“. Aber darauf kommt es doch nicht immer an. Mit ebensolchem Recht könnte man auch Oehlenschläger vorwerfen, seine Tragödien nicht zu Lustspielen gemacht zu haben. Oehlenschläger hat ein ganzes Regal voller Bücher geschrieben, die mit Qual gespickt waren und mit lauter Kummer endeten. Aber so weit ich weiß, nahm ihm das niemand übel.
Dass unsere Zeit nach Freude dürstet, kann unmöglich verwundern. Es ist ein Durst, der dem eines abgehärteten Trunkenboldes am Morgen nach einem Rausch entspricht. Er erträgt es nicht, nüchtern zu sein. Das widerspricht mittlerweile seiner Natur. Seine Hände zittern, seine Augen sind matt – und hier liegt die ganze unerledigte Arbeit von gestern, da all die für den kommenden Tag. Woher soll er die Kraft dafür nehmen? – Und um sich herum sieht er all den Schmutz und den Dreck, den er in seiner Trunkenheit verursacht hat. Er ekelt sich davor: Er will es nicht sehen. Weg damit! Er muss sich betäuben, vergessen. Ein Schnaps! Ein Schnaps!
Vielleicht ist es wahr, dass unsere Zeit keine Ruhe findet, bevor sie sich wieder in neue Orgien stürzt. Aber vielleicht wäre es besser, wenn sie ihre Natur bezwingen und die Arbeit, die auf sie wartet, erfüllen würde.
Lasst sie ruhig dürsten! Der Durst – sagt ein altes Sprichwort – treibt den Rausch aus. Deswegen gibt es keinen Grund, ihr einen Heiltrank zu reichen. Im Gegenteil. Gebt ihr mehr Salz!
Urbanus
Dieser „Dagbog“-Beitrag erschien 15. November 1889 auf S. 2, Spalte zwei der Kjøbenhavns Børs-Tidende. In der Zeitung wurde der Artikel wie üblich bloß unter dem Titel Dagbog („Tagebuch“) publiziert.
Die Sätze am Schluss, die hier rot markiert sind, finden sich in allen drei Ausgaben von Nattevagt („Nachtwache“) wieder und werden der Figur Jørgen Hallager (1894, S. 144-45) in den Mund gelegt. Eine synoptische Zusammenstellung kann man hier (noch nicht) finden. Sehen sie ferner in der „Chronik“ „Digterliv“ vom 8. Oktober 1889; Knut Ahnlund hält es für denkbar, dass dies mit einem Vorabexemplar von „Renaissance“ in der Hand geschrieben worden ist. „Renaissance“ wurde Anfang Oktober veröffentlicht.
Im Skjerbæk Archiv existiert eine Ausgabe von Verner von Heidenstams „Endymion“ mit Pontoppidans Namenszug. Dieses wurde im selben Jahr veröffentlicht. Das Buch ist broschiert und am Rücken recht abgenutzt, trägt aber im Übrigen keine sichtbaren Spuren von Pontoppidans Benutzung.
In abgeändertem Zusammenhang wurde der Artikel in der Frauenzeitschrift Hvad vi vil („Was wir wollen“) am 1.3.1890 wiederveröffentlicht.
- Renaissance trägt den Untertitel „ein paar Worte zum nahenden neuen Umbruch in der Literatur“. ↩︎