Der Greis von Aulestad
PCA 291, 1910
übersetzt von Randi Drümmer
© MH 2025
Trotz der Begeisterung, die Bjørnstjerne Bjørnson als Person erweckte, wo immer er auftrat; trotz des märchenhaften Nordlichtglanzes, den er schon in jungem Alter um einen lächerlichen Namen1 zu schlingen wusste, der von Anfang an wie für eine Parodie gemacht zu sein schien; trotz des strahlenden Siegeszugs, zu dem sich sein Leben bis ins hohe Alter so natürlich formte, blieb sein Einfluss auf das geistige Leben im Norden – und im Rest der Welt – relativ gering. Erstaunlich gering.
Er gehörte doch wirklich zu den Auserwählten. Vielleicht hat der Norden nie einen üppiger ausgerüsteten Menschen hervorgebracht als diesen Jungen, der sich in jener kalten Dezembernacht 1832 auf die Welt strampelte, auf dem armen Pfarrhof in Kvikne, während sowohl der Große und der Kleine Bär als auch die anderen wilden Tiere des Sternenhimmels über ihm kreisten und mit einem vertraulichen Funkeln zu ihm hinunterschauten. Ein Wunderkind war geboren. Mehr noch – ein junger Gott, der schnell von seinen übernatürlichen Kräften Besitz ergriff und sich seiner Mission bewusst wurde.
Dass er nun trotzdem niemand war, der das Gefühlsleben unserer Zeit entscheidend geprägt hat – was war da der Grund?
Die Frage drängte sich mir an einem Wintertag vor ein paar Jahren auf, als ich auf dem Weg von einer Poststation in Gudbrandsdalen über den Berg nach Gausdal war, wo Bjørnsons Hof bekanntlich liegt. In einem der örtlichen Winzblätter hatte ich gelesen, dass „der Greis von Aulestad“2 am Nachmittag einen Vortrag im Versammlungshaus zugunsten einiger Waisenkinder halten wollte, und das musste ich mir ansehen.
Ich hatte Bjørnson erst einmal zuvor reden gehört – vor vielen Jahren in Kopenhagen. Daher kannte ich seinen Vortragsstil. Ich wusste, dass ich keine wirkliche Wortgewandtheit erwarten konnte. Diese volkstümliche Kunstform ist ja heutzutage überhaupt selten geworden in den Vortragssälen außerhalb der Hochschule. Und doch hat sie fast die stärkste Wirkung auf das Gemüt, wenn sie wirklich so ist, wie sie sein sollte, ein inspirierter Stimmungsausbruch, der von der Zuhörerschar selbst beeinflusst wird, die an den Lippen des Redners hängt wie an einem Instrument, das er gekonnt spielt. Von einem Dichter mit Bjørnsons emotionaler Art und erfrischender Originalität konnte man doch genau dieses Improvisationstalent erwarten. Aber so war es nun einmal nicht.
In jedem Fall war sein Vortrag damals im Voraus genau ausgearbeitet. Jedes Wort war zurechtgelegt und bis auf die flüchtigste Betonung einstudiert. Es war durch und durch eine Theatervorstellung. Aber als solche war es prächtig. Das neugierige Kopenhagener Publikum, das den großen Saal des Casinos3 bis in die Ränge füllte, brachte er zur Begeisterung. Schon seine Gestalt war ja eine Augenweide. Doch allmählich geriet sie in Vergessenheit vor der Pracht der Bilderserie, die er vor den Augen seiner Zuhörer aufleuchten ließ.
Noch viele Jahre später erinnerte ich mich ziemlich genau an den Vortrag. Das Thema war eine Reiseerinnerung aus Rom: der pompöse Einzug des Papstes in die Lateranbasilika am Heiligabend, und er begann mit einer lebhaften Schilderung aus der Vogelperspektive von eben dem erleuchteten Innenraum der Kirche mit den gewaltigen Lichtbögen, rot bezogenen Wänden und – ganz unten – dem wie von Ameisen wimmelnden Boden, wo sich dreißigtausend Menschen Kopf an Kopf zusammendrängten und trotz des Schweigens ein Rauschen verursachten wie ein Meer im Sturm. Mit viel Humor beschrieb er daraufhin die mittelalterlich gekleideten Schweizergardisten in ihren schwarz-gelben Trachten und die anderen päpstlichen Soldaten, die in voller Kriegsmontur zu beiden Seiten des Mittelganges aufgestellt waren und ihre Gewehre schulterten und die Trommeln rührten, jedes Mal wenn der Vorhang vor einem der Seiteneingänge des Hauptportals aufgeschlagen wurde und ein Kardinal im Seidengewand oder ein anderer hoher Prälat mit seinem Priestergefolge auf den Hochaltar zuschritt. Mit einem unglaublichen Einfallsreichtum und der klügsten, witzigsten Berechnung fügte er Strich um Strich und Farbe um Farbe zu seinem scheinbar willkürlich hingeworfenen Bild. Und wo Worte nicht langten, um den richtigen sinnlichen Eindruck der Unruhe und der langsam anschwellenden Anspannung in der wartenden Menschenmenge zu vermitteln, griff er zu den kühnsten Methoden. So wurden zum Beispiel die Trommelschläge nicht einfach nur erzählt: Bjørnson führte das Kunststück vor, ihr Geräusch mit der Zunge nachzuahmen, und zwar nicht nur andeutungsweise, sondern mit einem minutenlangen Wirbel, der mal an Lautstärke wuchs und dann wieder abnahm, sodass es einem vorkam, als hörte man das Echo unter dem leuchtenden Kirchengewölbe verebben.
Erstaunlich war vor allem seine Darstellung des großen Augenblicks, als der Klang der Vivatrufe draußen auf dem Platz zu verstehen gab, dass sich der päpstliche Wagenzug näherte, und die freudige Erwartung in der Kirche in ekstatische Panik umschlug. Die Kupferflügel des Mittelportals wurden aufgeschlagen, und zwischen den obersten Lichtbögen der Illumination leuchteten – wie von unsichtbaren Händen entflammt – in Feuerschrift die Worte „Du bist Petrus“ auf, im selben Moment, in dem sich der weißgekleidete Papst offenbarte, in seiner goldenen Sedia4, gegrüßt von dreißigtausend Menschenkehlen, von der Fanfare der päpstlichen Bläser auf der Galerie, vom Trommelwirbel der Soldaten und der Jubelhymne des Kastratenchors: „Du bist Petrus!“ – Hier versuchte Bjørnson vernünftigerweise nicht, die Himmelsmusik Palestrinas mit ihren Silbertrompeten und Posaunen nachzuahmen; aber die Worte sang er doch auf eine Art, dass man meinte, sie in der Luft klingen und jubeln zu hören.
Fast am bemerkenswertesten war, wie wenig man spürte, dass Bjørnson mit diesem Vortrag auf Tournee war und ihn schon in diversen skandinavischen Theatersälen gehalten hatte. Seine Begeisterung für das Thema, seine künstlerische Freude daran, die verlockende Macht der Worte über die Fantasie der Zuhörer zu spüren, wirkte immer noch frisch.
Nun saß ich im Schlitten und konnte mein Glück kaum fassen, dass ich doch noch einmal die Möglichkeit bekam, den berühmten Dichter und großen Menschenfreund zu sehen und zu hören; und obwohl ich seine Vortragsart ja kannte, war ich erwartungsvoll gestimmt. Worüber würde er wohl diesmal reden? Welches neue Bild würde dieser Wortzauberer heute in mein Gedächtnis brennen, sodass es noch viele Jahre später als festliche Erinnerung in mir leuchten könnte? Ich wusste ja schon, dass Bjørnson mittlerweile alt geworden war, weit über siebzig. Ich hatte auch gelesen, dass er vor Kurzem ernsthaft krank gewesen war. Aber er gehörte ja nicht zu jenen Bäumen, die beim ersten Axthieb gleich umfielen. Er hatte erst kürzlich der Welt in einem Zeitschriftenartikel ein neues Zeugnis von seiner unverminderten Gabe geliefert, alles, was er anrührte, zu Kunst oder wenigstens zu einem Kunststück zu machen.
Schritt für Schritt ging es nun schon drei Stunden lang steil bergauf einen Weg entlang, wo die Schneedecke vielerorts durch die schweren, mit Holz beladenen Lastschlitten aufgerissen war, die uns ständig entgegenkamen. Überall sonst lag knietief frischer und weicher Schnee. Ein Hund aus der Poststation, der mitgekommen war, musste anfangen zu paddeln, sobald er – von einer Hasenspur oder einem vorbeifliegenden Vogel gelockt – vom Weg abkam. Aber es war nicht besonders kalt. Die Temperatur lag gerade einmal ein paar Grad unter dem Gefrierpunkt, und die Luft war still. Außerdem war es für die Augen eine Wohltat bei all diesem Weiß, dass die Sonne nicht schien. Eine lange, graubraune Wolke streckte sich über den Südhimmel wie eine ungeheure Straußenfeder und schirmte das Licht ab.
Für mich, der aus der Todeskälte in der erloschenen Welt in Jotunheimen kam, hatte diese idyllische Winterlandschaft etwas Beruhigendes. Der weiße, weiche und leichte Schnee, der wie eine Daunendecke auf der Erde lag, wirkte behaglich wärmend auf das Gemüt. Die Krähen, die gemächlich aus den Wäldern segelten; die bläulichen Rauchsäulen um uns herum, wo sich kleine Hütten hinter den Bergklumpen versteckten, – alles schuf eine friedliche Festtagsstimmung, eine recht bjørnsonsche Sonntagsstille über dem rauen Land. Doch nun erreichten wir endlich das Plateau, und das Pferd wurde schneller. Der Schlitten rumpelte über den unebenen Weg wie auf einer Rutschbahn. Als es wieder bergab ging, musste ich mich während der wilden Fahrt oft mit beiden Händen festhalten, um nicht herunterzufallen. Und mit klappernden Zähnen zitierte ich vor mir her:
„Brausen sie nicht,
sausen sie nicht!“5
Am Tag zuvor war ich über den zugefrorenen Lemonsjø in den Ausläufern des Jotunheimen gefahren: eine zwei Meilen lange Eiswüste, die eine Kälte ausatmete, die sich durch all meine Pelzkleidung gebissen hatte. Genau in der Mitte des Sees war es so kalt geworden, dass mir die Situation unheimlich wurde. Der gefrorene Schweiß des Pferdes lag wie ein Perlenteppich auf seinem Rücken, und ich selbst hatte einen Eisbart wie der Weihnachtsmann.
Ich hatte die Reise nach Jotunheimen unternommen, um einen Bekannten aufzusuchen und mit nach Hause zu nehmen, einen jungen Mann, der halb aus Lebensüberdruss, halb aus Abenteuerlust Familie und Vaterland verlassen hatte und nun seit einigen Jahren durch Norwegen tingelte. Die letzten zwei Winter hatte er als vollkommener Einsiedler hier in der Märchenwelt verlebt: die Huldra6 der großen Stille hatte ihn gefangen genommen. Ich traf ihn in einer kleinen, eingeschneiten Holzstube nicht weitab des hahnenkammförmigen Bergrückens „Besseggen“ an, über den Peer Gynt seinen wilden Traumritt auf dem Geißbock geritten war. Er hatte sich ziemlich primitiv eingerichtet; es konnten Wochen vergehen, ohne dass er einen Menschen sah oder sprach. An den tagelangen Abenden saß er nichtstuend am Kamin und rauchte eine kleine Pfeife, legte Zweig um Zweig ins Feuer und fühlte sich glücklich. Tagsüber las er ein wenig und vertrieb sich die restliche Zeit damit, zu kochen, Holz zu hacken und so weiter. Als Ausländer durfte er nicht jagen gehen, ohne eine unverhältnismäßige Gebühr zu zahlen, also ließ er seine Flinte rosten. Wenn er einmal mit einer Falle ein Schneehuhn fing und das ordentlich braten wollte, musste er auf Skiern zu einem seiner Nachbarn, zum Beispiel zum alten Rentierjäger Jens Tronhus in Randsverk, das viele Sommertouristen kennen, – das war anderthalb Meilen entfernt. Frische Lebensmittel bekam er ansonsten nur, wenn ab und zu Leute von den Höfen rund um Vågevandet kamen, um Heu von den Almen zu holen. Die brachten ihm auch seine Post.
Obwohl er es nie zugegeben hätte, hatte er sicher oft bittere Tage. Er sah einfach nicht so glücklich aus, wie er krampfhaft behauptete zu sein. Trotzdem hatte ich ihn nicht überreden können, nach Hause und in die Gesellschaft der Lebenden zurückzukehren. War ich vielleicht selbst zu sehr von der Einsamkeit und den Sternennächten dort oben verzaubert gewesen? Hatte auch ich zu tief der großen Todesstille gelauscht, wenn der Mond über den silberweißen Bergkronen aufstieg und plötzlich beim Anblick des fremden kleinen Menschenpunkts unten in der Schneelandschaft anzuhalten schien: Wer bist du? – Wie auch immer, jedenfalls war ich nicht mehr neidisch auf ihn. Mir tat dieser arme, willenskranke Mensch leid, der ja sicher am Ende an einer Art seelischen Erfrierung zugrunde gehen würde. Eine eigenartige, unnatürliche Gefühllosigkeit hatte ich bei ihm schon gespürt.
Ich dachte: Hätte ich ihn doch bloß mit zu diesem Treffen mit Bjørnson genommen! Dessen Feuereifer hätte ihn schon aufgetaut, die reiche und fruchtbare Menschlichkeit hätte seine karge Lebensverachtung beschämt. Und wenn nicht, dann gäbe es ja schließlich noch andere Wiederbelebungsmittel hier. Ich dachte an die vielen jungen Frauen, die sich vermutlich zu einer solchen Gelegenheit scharen würden, und das nicht nur wegen des Greises von Aulestad. In der Bekanntgabe hatte gestanden, dass nach dem Vortrag noch gespielt und getanzt würde.
Holterdiepolter ging es lustig bergab, und plötzlich – in einer Kurve – tat sich weit unter mir Gausdalen vor meinen Augen auf. Ich hatte vor ein paar Jahren dort den Sommer verbracht, konnte den Ort aber im Schnee nicht wiedererkennen. Die großen, weißgestrichenen Höfe, die Seite an Seite in diesem fruchtbaren Tal liegen, verschwanden in all dem anderen Weiß. Auch die drachenblutfarbenen Schuppen oder die Häuslerhütten am Waldrand waren kaum zu sehen wegen der schneebedeckten Dächer. Und doch ist so ein norwegischer Bauernhof ja ein ganzes Dorf, das oft mehr als zwanzig verschiedene Gebäude zählt, mehrere davon mit zwei oder drei Stockwerken.
Vor einem Haus war eine Flagge gehisst, dort musste also der Versammlungssaal sein. Von hier oben wirkte es kaum größer als eine Hundehütte. Rings herum war der Schnee schwarzgesprenkelt wie ein Kümmelkäse – Menschen, die sich dort unten bewegten. Es war auch fast Zeit für den Beginn der Veranstaltung. Obwohl ich noch immer Mühe hatte, mich bei der rasenden Fahrt auf dem Schlitten festzuklammern, musste ich durchhalten, um rechtzeitig anzukommen.
Ein besonders großer Raum war der Versammlungssaal nun wirklich nicht. Wir saßen sicherlich mit ein paar hundert Menschen darin, als Bjørnson zum Rednerpult ging, und mehr Leute konnten nicht untergebracht werden, obwohl sogar die Fensterbänke als Sitzplätze genutzt wurden.
Über Bjørnsons „Riesengestalt“ ist so viel Übertriebenes gesagt und geschrieben worden. In Wirklichkeit war er nicht viel größer als der Durchschnitt. Nur, wenn er saß, wirkte er größer, weil sein Oberkörper unverhältnismäßig lang und breit war, seine Beine dagegen kurz. Doch was für ein wunderbarer Kopf! Er wurde nicht einmal durch die Brille entstellt, und das, obwohl man sie nicht übersehen konnte, wenn das Licht genau so auf die Gläser fiel, dass sie wie Reflektoren wirkten. Doch sie nahm dem Gesicht nichts von seiner naturgewachsenen Kraft. Sie machte ihn nicht zu einer Professorengestalt. Sie beherrschte die Erscheinung auch nicht auf eine Weise, wie es bei so manchem Ordinarius passiert, der all seine „interessanten“ Züge von einem Paar scharf geschliffener Brillengläser verliehen bekommt.
Übrigens begann er seine Rede etwas schulmeisterlich mit ein paar Worten zu einer Kirchenfrage, die in Norwegen gerade Alltagsgespräch war. Es war eine Ermahnung mit erhobenem Zeigefinger und erhobenen Augenbrauen, die ein bisschen arm klang. Doch sobald er zu seinem eigentlichen Thema kam – einer Erinnerung an seine jungen Tage – schwoll seine Rede an wie durch einen plötzlichen inneren Antrieb. Dieser Übergang hatte etwas vom rauschenden Aufschwung gewisser großer Vögel, die nach einem seltsam unbeholfenen Manöver beim Anflug plötzlich in der Luft ihre ganze Pracht entfalten und balzend gen Himmel segeln.
Man merkte der versammelten Menge auch bald an, dass er sie in seiner Macht hatte. Sie saß still, wie von einem Zauberstab berührt – lauter offene Augen und Münder. Nur ich selbst rutschte unruhig auf der Bank hin und her und fühlte einen Stich im Herzen. Bjørnson hatte noch nicht viel gesagt, als mir klarwurde, dass der Vortrag eine Wiederholung von jenem war, den ich zehn Jahre vorher in Kopenhagen gehört hatte. Es war dasselbe blendende Kunstwerk, und ich erkannte alles wieder: die Trommelwirbel und die Vivatrufe der Menge und die Kunstpausen, die ab und zu einem treffenden Wort oder Bild vorausgingen, so als ob die Inspiration es gerade in diesem Moment geboren hätte. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir gut einbilden, dass ich den ganzen Vortrag von einem Phonographen vorgespielt bekäme. Die „Platte“ hatte sich im Lauf der Jahre etwas abgenutzt; doch es fehlte keine Silbe.
Es war enttäuschend, – mehr noch: Es tat fast weh. Bjørnson als mechanisches Theater – das verstimmte mich. Und so rührend es auf eine Art war, dass dieser weltberühmte Mann, der in Großstädten überall das vornehmste Publikum an sein Rednerpult fesseln konnte, sich doch nicht zu schade war, vor einer kleinen Versammlung träger Landbewohner aufzutreten, wenn er damit ein paar Waisenkindern helfen konnte, so lag in dieser Willigkeit doch etwas, das misstrauisch machte und zum Nachdenken mahnte. Ich konnte nicht anders, als an die Geschichte von dem wilden Bären zu denken, der als Junges eingefangen und zur Belustigung des Publikums abgerichtet wurde, und der schließlich als alter Tanzbär endete, der sich nur beim Anblick von Menschen gravitätisch auf die Hinterbeine stellte und seine Künste zum Besten gab. Ich fragte mich, ob dieses Wunderkind, das der Welt in jener Dezembernacht im kalten Norden unter den Zeichen der Stärke und Einfalt geboren wurde, nicht schon früh in seinem märchenhaften Leben Schaden an seiner Ursprünglichkeit genommen hatte. Hatte Bjørnson nicht schon in seinen ersten Erzählungen bedenklich mit Wörtern jongliert? Der bjørnsonsche Stil, für die alten Griechen eine Torheit und für die Pharisäer ein Ärgernis – war der nicht auch oft eine ziemliche Kraftleistung und ein Drahtseilakt für ein glotzendes und gaffendes Marktpublikum? Es hatte sich dann obendrein so gefügt, dass genau die Verwegenheit seines Stils, die gigantische Unverfrorenheit seines ganzen Wesens ihn in der Literatur Schule machen ließen – und über die Literatur hinaus. So wie sein Genie die Affektiertheit und Künstelei in der Poesie akzeptabel gemacht hatte, hatte es auch das öffentliche Leben geprägt. In seinen Riesenspuren sprang und lief eine Narrenreihe aus Seiltänzern und Kraftakrobaten, Gaudieben7 und Bauernfängern, die in den Kostümen von Glaubenszeugen und poetischen Verkündigern auftraten.
Ich wurde von kräftigem Händeklatschen geweckt, das mir beschämend um die Ohren schlug, als der Vortrag zu Ende war. Es ist ja mittlerweile üblich, Vortragende mit Theaterbeifall zu entlohnen. Vielleicht kommt bald die Zeit, da so etwas auch in der Kirche nach einer geglückten Leistung auf der Kanzel zu hören sein wird. Trotzdem wunderte es mich ein bisschen, diese Sitte nun auch bei einer Versammlung norwegischer Bauern in einem abgelegenen Bergtal zu finden. Ich hatte auch den Eindruck, dass sie nicht von ganz allein auf diese Idee gekommen waren. Aber Bjørnson freute sich augenscheinlich über den Applaus.
Unmittelbar danach zog er zusammen mit seiner Familie ab. Und nun begann eine sogenannte „Korbauktion“ – eine anscheinend eigentümlich norwegische Art von Basar, die sehr reizvoll ist. Jede der jungen Frauen bringt zu einem solchen Wohltätigkeitsfest einen geschmückten Spankorb voll mit Kuchen und anderen Köstlichkeiten mit, und diese Körbe werden auf eine Art und Weise versteigert, die gerade unter den jungen Männern die Kauflust anstacheln und einen ritterlichen Wettstreit veranlassen soll. Versteckt unter den frischen Tannenzweigen, die den Inhalt des Korbs abdecken, liegt nämlich ein Zettel mit dem Namen der Spenderin, und wer den Zuschlag für einen Korb erhält, hat sich zugleich auch das Recht erworben, den Inhalt mit derjenigen zu genießen, die ihn gestellt hat.
Ich musste leider aufbrechen, ohne die Auflösung dieses Spiels mitzubekommen. Mein Fahrer hatte mir schon einige Male besorgt auf die Schulter geklopft. Wir mussten eine Stunde vor Mitternacht zurück über die Berge sein, weil der Mond dann unterging.
Als ich wieder im Schlitten saß und etwas Abstand zu dem Erlebnis bekam, bereute ich meine respektlosen Gedanken während Bjørnsons Vortrag. „Jeder sollte wissen, dass selbst der größte Mensch aus Lehm geschaffen ist.“ Sogar im größten künstlerischen Genie steckte nun einmal ein kleiner Hans Quast8 – eben dieser war in den meisten Fällen die „Unruh“, die das große schöpferische Uhrwerk in Gang hielt. So auch bei Bjørnson. Wenn auch viel im lärmenden Triumphzug seines Lebens ein Narrenfest gewesen war – er war doch noch im Alter eine leuchtende und wärmende Seltenheit in einer Zeit, in der allzu viele brave Menschen aus einer rechtschaffenen Furcht vor Geschwollenheit und Maskerade ihre Gefühle klein hielten und sich dabei selbst um den eigentlichen Inhalt des Lebens betrogen: das Märchen.
Und doch! …
Schritt für Schritt ging es schwer dieselben Kurven hinauf, die ich vor ein paar Stunden so vorfreudig hinuntergeflogen war. Die Luft war noch eisiger geworden. Der Schnee schrie unter den Schlittenkufen.
Unmerklich glitt die schneeleuchtende Dämmerung über in eine mondklare Nacht. Und als der Mond unterging und der Himmel schwarz wurde, wuchsen die Sterne. Sie hingen dort oben wie kleine Sonnen und schickten lange Strahlen durch die dünne Luft, sodass es aussah, als ob der Himmel von Gold tropfte. Ich dachte an den jungen Freund, den ich in der Eiswüste zurückgelassen hatte. Wahrscheinlich saß er jetzt am Kamin in seinem kleinen Blockhaus und rauchte seine Shagpfeife; oder er stand in seiner Tür und starrte verloren in dieses leuchtende Gewimmel aus Himmelskörpern. Er tat mir aufrichtig leid. Und doch verstand ich in diesem Augenblick vielleicht besser als je zuvor, welcher Art die Enttäuschungen waren, die ihn (und so viele andere der besten jungen Leute unserer Zeit) dazu gebracht hatten, sich missmutig vom Marktgetümmel abzuwenden und die öden Weiten der Einsamkeit und Lebensverachtung aufzusuchen.
Dieser Artikel erschien im Mai 1910, kurz nach Bjørnstjerne Bjørnsons Tod am 26. April, in der Zeitschrift Tilskueren, S. 405-413. Pontoppidan hatte den Beitrag dem Redakteur der Zeitschrift, Poul Levin, bereits im vorigen Dezember angeboten; Levin entschied jedoch, diesen Artikel neben anderen Nachrufen auf Bjørnson abzudrucken. Aus Pontoppidans Briefwechseln mit seinen Freunden Martinus Galschiøt (früherer Redakteur des Tilskueren)[da] und Henri Nathansen (Schriftsteller und Theaterregisseur)[da] geht hervor, dass er selbst mit der Veröffentlichung in diesem Kontext unzufrieden war und vergebens versucht hatte, den Artikel auf eine spätere Ausgabe zu verschieben. Stoff aus dem Artikel fand später Eingang in Eine Winterreise.
- Der Name Bjørnstjerne Bjørnson bedeutet wörtlich „Bärenstern Bärensohn“. ↩︎
- Aulestad ist der Name des Hofs im norwegischen Gausdal, auf dem Bjørnson ab 1875, von seinen Auslandsaufenthalten abgesehen, lebte. ↩︎
- Das Casino war ein Theater in Kopenhagen, das von 1848 bis 1939 in Betrieb war. Das Gebäude in der Amaliegade wurde 1960 abgerissen. ↩︎
- Die Sedia gestatoria ist der tragbare Thronsessel des Papstes. ↩︎
- Bjørnsons Gedichtzyklus Arnljot Gelline (1870) enthält das Gedicht Skifærden (Die Skifahrt), in dem es heißt: „Går d’ikke fygende, / går d’ikke rygende, / tre mand oppe på ét par ski, / skogveje, fjældveje, bygderne forbi.“ („Brausen sie nicht, / sausen sie nicht, / drei Mann auf einem Paar Skier, / an Waldwegen, Feldwegen, Dörfern vorbei.“) ↩︎
- Naturgeist aus der skandinavischen Folklore. Im norwegischen Volksglauben wird die Huldra als schöne, aber grausame Frau dargestellt, die Männer verführt und auf ewig zu sich in die Berge lockt. In manchen Erzählungen stiehlt sie auch Kinder und ersetzt sie durch Wechselbälger. ↩︎
- Gauner. Im dänischen Original steht hier das deutsche Wort „Gaudiebe“. ↩︎
- Niederdeutsche Bezeichnung für einen albernen, närrischen Menschen; Erzählung von Pontoppidan (1907, deutsche Übersetzung 1929). ↩︎