Der Winter

PCA 69 & 76, 1888/1889
übersetzt von Alina Schemberg
© MH 2012, 2013

I

Es gab keine weiße Weihnacht. Die vielen Menschen, die aufs Land gereist waren, um die Weihnachtstage mit Schlittenfahrten und romantischem Eingeschneitwerden zu feiern, kamen mit Veilchen und Freilandrosen im Knopfloch zurück.

Der Weihnachtsnisse1 trug nicht wie sonst Pelz und Fellstiefel, sondern Regenmantel und Schirm. In dieser Montur hielt er alle Weihnachtsautoren zum Narren, die wie gewöhnlich ausgiebig in Schnee und klirrendem Frost geschwelgt hatten, um die richtige Weihnachtsstimmung heraufzubeschwören.

Es dürfte überhaupt ein dichterisches Missverständnis sein, dass Weihnachten und Schnee zusammen gehören – genauso wie die Annahme, dass Mai und Frühling untrennbar seien. Der dänische Schneewinter dauert von Januar bis Ende Mai. Der Rest des Jahres vergeht mit Warten auf den Sommer oder mit Klagen darüber, dass er ausblieb. Der dänische Sommer ist ein Winter ohne Schnee.

Die Weihnachtsreisenden, die dieser Tage ein wenig kleinlaut mit ihren Pelzen, ihren Schlittschuhen und allerlei enttäuschten Erwartungen interessanter Winterabenteuer nach Hause fahren, müssen sich indessen damit trösten, dass dieses „elendige“ Weihnachtswetter für viel mehr Menschen nützlich als enttäuschend war. Für diejenigen, die ihr Feuerholz heimlich hinter Holzlagern sammeln oder es öreweise kaufen und in einem Stück Papier nach Hause tragen müssen, ganz zu schweigen von denen, die noch nicht einmal wissen, was ein heißer Kachelofen bedeutet – für diese sind ein paar Grad mehr das allerschönste Weihnachtsgeschenk. Dank dieses stillen Nebels sind die heiligen Tage für sie vielleicht leichter vorübergegangen, als sie selbst zu hoffen gewagt hatten.

Aber der Winter wird sich schon noch melden. Und wenn wir keine weiße Weihnacht hatten, trauen wir uns auch nicht, grüne Ostern zu erwarten.

Ganz im Gegenteil scheint uns die Erfahrung zu lehren, dass der Winter umso kräftiger und ausdauernder zupackt, je später es ihm beliebt, sich einzufinden. Das sollten die Leute nicht vergessen, die sonst zur Weihnachtszeit für diejenigen, die Not leiden, ein offenes Herz haben, die allerdings vielleicht durch dieses milde Wetter veranlasst wurden zu glauben, dass sie dieses Jahr an ihrem Mitgefühl sparen könnten.

Die vielen Leute, die sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande wie die Vögel mühsam ihre Nahrung sammeln und Windschutz suchen müssen, werden dieses Jahr auch noch zu spüren bekommen, dass sie Kinder des Nordens sind. Und das Jahr war nicht gut. Wie vielen es schon am Notwendigsten mangelt, könnte man leicht feststellen, wenn man eine Runde durch die höchsten Häuser in den engsten Gassen drehte und hier und da in die kleinen Räume hineinschaute, in denen die Bewohner selbst die einzige Wärmequelle sind.

Es gibt in Kopenhagen viel mehr Not, als die meisten ahnen. Das liegt daran, dass sich das schlimmste, tiefste Elend oft an den unzugänglichsten Orten versteckt, während man im Allgemeinen nur die Tagediebe wahrnimmt, für die Armut ein Beruf ist und Lumpen eine Uniform sind.

Es gibt hier in Kopenhagen unter den Dächern Höhlen von der Größe eines Kleiderschranks, in denen sich oft 4–5 Personen verschiedenen Geschlechts sammeln und Tag und Nacht dort aufhalten, ohne sich jemals auf den Straßen zu zeigen, weil sie keine Fetzen haben, um ihre Nacktheit zu bedecken. Viele von ihnen sind ordentliche und anständige Leute, die von ihrer Schamhaftigkeit und ihrem rechtschaffenen Ehrgeiz im Verborgenen gehalten werden und schon durch ein klein wenig Hilfestellung erlöst werden könnten.

Es wäre gut, wenn man rechtzeitig an diese Leute denken würde, bevor der Winter sie ganz erdrückt. Sie sind oft schwer zu finden und im Allgemeinen noch schwieriger in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sind menschenscheu geworden, beinahe wie Tiere von langem Eingesperrtsein, und scheinen in einer Art stillem Wahnsinn zu leben, verursacht vom ewigen Hunger. Die Frage, ob sie Not leiden, verneinen sie gern, und oft kann man sie weder mit Macht noch guten Worten aus ihren Höhlen heraustreiben, deren Dreck, Gestank, Kälte und Ungeziefer ihnen zum Schluss eine Notwendigkeit geworden zu sein scheint.

Viele gute Kopenhagener schenken solchen Schilderungen noch keinen Glauben. Darauf erwidern wir: Gehen Sie selbst hinaus und suchen Sie, dann finden Sie schon die richtigen Stellen. Und tun Sie es am besten jetzt, bevor der Winter zuschlägt.

II

Dann kam endlich der Frost – still und vorläufig ganz sachte.

Dennoch verwandelte er im Nu das Aussehen der Stadt. Im Laufe einer Viertelstunde wurden die klebrigen Straßen trocken und glatt wie ein Tanzparkett, feine Spiegel aus Kristall bedeckten die Rinnsteine, alle Spaziergänger bekamen eine rote Nase und als zuletzt selbst die Sonne für einen Augenblick auf die Idee kam – gewiss ein wenig schlaftrunken – aus ihren Wolken-Decken herauszublinzeln, um wie ein altes Mütterchen auch ihre Stiefkinder im neuen Jahr zu begrüßen, ging uns das bedrückte Weihnachtsherz wieder auf und wir fanden, dass Kopenhagen doch eine ganz schöne, saubere und behagliche Stadt ist.

Man kann dies nämlich allmählich vergessen, wenn man einige Wochen lang nicht einmal so viel blauen Himmel gesehen hat, wie auf einen Nagel passt, wenn man sich Tag für Tag mit Galoschen durch die gewohnte, drei Zoll dicke Grütze über die Straßen pflügen musste, sodass man sich am Morgen kaum dazu bringen konnte, die Augen aufzuschlagen, aus Furcht vor dem Anblick seiner bespritzten Beinkleider, die einem von der Türangel mit all dem Schmutz des Vortags entgegen grinsen. Alle farblosen Häuser der Stadt schmollen in dem äußerst schmierigen Kopenhagener Nebel, der die Finger klebrig macht und sich mit einem so ranzigen Geschmack auf die Zunge legt, dass man sich unwillkürlich fragt, warum unsere geschäftstüchtigen Margarinehersteller nicht versucht haben, ihr Produkt daraus zu gewinnen, so, wie man seinerzeit zu ähnlichem Zweck den Schlamm der Themse benutzte.

Am verdrießlichsten war dieser Nebelwinter jedoch für die Glücklichen, die im Besitz eines Spazierpelzes und einer schicken Seelöwenfellmütze sind, und die sich jetzt drei Monate lang ungeduldig nach einer Gelegenheit sehnten, mit diesen so begehrten Zierden Neid zu wecken. Mein Freund, Doktor Momme, der sich schon im Oktober ein herrliches Zobelfell angeschafft hatte, das ihm die reiche und vornehme Praxis einbringen sollte, nach der es ihn so lange dürstete, hat in diesen letzten Monaten all seine Patienten mit einer Gastritis angesteckt, die er sich vor lauter Verdruss zugezogen hatte.

Aber gestern traf ich ihn auf der Straße – stolz und lächelnd, wie ein Mann mit bester Verdauung. Er hob mir gnädig grüßend eine Hand entgegen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mit dem wunderbaren Scharfblick neu eingekleideter Menschen für Bekleidungsschwächen anderer sofort entdeckte, dass mir einer der kleinen Knöpfe auf meinem linken Mantelärmel fehlte.

Im selben Augenblick liefen mir einige unüberhörbare Herren über den Weg, die aus einer nahegelegenen Gaststätte kamen. Sie hatten augenscheinlich gerade angeregt zu Mittag gegessen, und einer von ihnen blieb stehen, um sich umzusehen.

„Was zum …! Es gab Frost, während wir drinnen saßen … oder?“

„Frost!“, wiederholte ein älterer Kavalier mit tiefrotem Gesicht und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn; er hatte den Hut noch nicht richtig auf. „Ich glaube, Sie sind verrückt, Peddersen. Ich schmelze fast vor Hitze.“

„Ganz egal“, sagte ein anderer. „Ich für meinen Teil finde es beißend kalt. Ausgezeichnet! Dann steigen die Kohlepreise!“

„Unsinn!“, beharrte der halsstarrige Alte, und zankend setzten sie ihren Weg die Straße entlang fort.

An der Ecke trippelte eine große, jämmerlich aussehende Gestalt verfroren vor einer kleinen Karre mit alten Äpfeln, die sie zum Verkauf anbot, auf und ab. Der Mann hatte lediglich einen zerschlissenen Mantel um die schmutzigen Überreste seines Hemdes geknöpft, und an seinen dünnen Beinen schlackerte eine viel zu kurze, graue Sommerhose. Sein altes, zerfurchtes Gesicht war ganz blau vor Kälte und er blies in seine großen, tauben Hände, während er mit roten, tränenden Augen aufmerksam seine Äpfel bewachte.

Vor dieser Gestalt machte die muntere Gesellschaft Halt und der Alte sagte:

„Zum Henker, Sie haben tatsächlich Recht, Peddersen, – dieses Thermometer kann sich weiß Gott nicht irren. Wir haben wirklich Frost. Ihm klappern ja die Zähne. Hört mal, ich finde, dass wir darauf unbedingt etwas Warmes brauchen. Was meint ihr?“

Darüber wurden sie offensichtlich schnell einig, und Arm in Arm bogen sie in eine andere Straße.

Der Fröstler an der Ecke hielt einen Moment inne und sah ihnen nach. Dann setzte er wieder ungestört sein Trippeln fort.

Und so wird der Arme wahrscheinlich weiterwandern, Tag ein, Tag aus, während der Winter zuschlägt. Und die jungen und alten Herren, die in ihren warmen Spazierpelzen an ihm vorbeigehen, werden an seiner Gesichtsfarbe, seinen tränenden Augen und seiner tropfenden Nase abschätzen, wie viel Grad es in etwa friert.

Aber es gibt viele solcher verlässlicher Thermometer in der Stadt, an den Ecken wie in den Häusern.

Wenn wir richtig darüber nachdenken, hat wohl jeder von uns eine ähnliche Gestalt, in deren Gesicht wir den Grad an Bitterkeit und Not des Winters ablesen können.

Lasst sie uns nicht vergessen! –

Beide Artikel erschienen in der dänischen Zeitung Politiken. Pontoppidans Urheberschaft geht aus der Gehaltsliste der Politiken hervor. Der erste Teil erschien am Sonntag, 30. Dezember 1888, der zweite am Donnerstag, 10. Januar 1889.

  1. Weihnachtsnisse: Julenisse, dänischer Weihnachtskobold. ↩︎